Die steigende Lebenserwartung stellt Pflegeheime vor neue Herausforderungen. Christoph Bächtold erklärt, wie das Alters- und Pflegezentrum Bruggwiesen mit dem Pflegefachkräftemangel umgeht und sein Angebot an die zunehmende Pflegebedürftigkeit der Bewohnerinnen und Bewohner anpasst. Die Förderung der Selbständigkeit und vorhandenen Ressourcen pflegebedürftiger Menschen sowie die langfristige Bindung der Mitarbeitenden sind seine zentralen Anliegen.

Herr Bächtold, Sie haben die Leitung des Alters- und Pflegezentrum Bruggwiesen im Januar 2021 in einer herausfordernden Zeit übernommen. Seitdem sind über zwei Jahre vergangen. Welche Herausforderungen haben Sie und Ihr Team heute zu meistern?
Vor und während der Pandemie war die Auslastung für viele Heime die grösste Herausforderung. Auch wir hatten dieses Problem und mussten den Mitarbeitendenbestand über die natürliche Fluktuation etwas reduzieren. In den letzten 12 Monaten ist die Auslastung jedoch deutlich gestiegen und unser Heim ist mehr oder weniger voll belegt.

Derzeit ist der Fachkräftemangel in aller Munde und beschäftigt uns stark. Die Suche nach Pflegefachkräften ist enorm schwierig und teuer, erfordert viel Geduld und funktioniert kaum ohne Personaldienstleister. Manchmal haben wir aber auch zwei Monate lang keine einzige Bewerbung. Das ist also unsere grösste Herausforderung. Als wir zeitweise nicht gut ausgelastet waren, war der limitierende Faktor nicht die Nachfrage, sondern die Anzahl der Mitarbeitenden. Dann konnten wir erst wieder neue Bewohnerinnen und Bewohner aufnehmen, wenn wir mehr Mitarbeitende zur Verfügung hatten.

Ein weiteres Problem ist die Überadministrierung in der Pflege. Unsere Pflegemitarbeitenden verbringen zu viel ihrer Zeit mit administrativen Aufgaben. Ihren Beruf haben sie aber wegen der Pflege gewählt. Ich frage mich daher, ob es sinnvoll ist, dass jeder Handgriff gegenüber Steuerzahlenden und Krankenkassen dokumentiert werden muss. Die Reduzierung der administrativen Aufgaben wäre wünschenswert.

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Die Lebenswartung in der Schweiz ist eine der höchsten der Welt – Tendenz steigend. Wie begegnen Sie altersbedingten Herausforderungen wie Demenz und Erkrankungen?
Während der Pandemie hat sich der Trend, dass Menschen möglichst lange zuhause bleiben und immer später ins Heim kommen, deutlich herauskristallisiert. Sie kommen häufig direkt aus dem Spital zu uns und benötigen von Anfang an mehr Pflege. Jede und jeder unserer 160 Bewohnerinnen und Bewohner ist pflegebedürftig. Das Altersheim von früher gibt es nicht mehr.

Entsprechend haben wir ein spezialisiertes Angebot geschaffen und entwickeln es ständig weiter. Wir bieten Demenzwohngruppen, Abteilungen für psychogeriatrische Erkrankungen, komplexe und befristete Pflege sowie ein Zentrum für Begegnung und Tagesgestaltung. Letzteres ist für Tagesaufenthalte und als Entlastung für pflegende Angehörige gedacht. Ausserdem gibt es dezentrale Wohngruppen mit nur acht Bewohnerinnen und Bewohnern, wo das familiäre Zusammenleben im Zentrum steht. Diese Angebote sind durchlässig, und Flexibilität ist gefragt, da die Aufenthalte der Menschen im Pflegeheim immer kürzer werden.

Jede und jeder unserer 160 Bewohnerinnen und Bewohner ist pflegebedürftig. Das Altersheim von früher gibt es nicht mehr.

Wie fördern Sie die Selbständigkeit und Eigenverantwortung Ihrer Bewohnerinnen und Bewohner?
Wir verstehen uns als Zuhause für unsere Bewohnerinnen und Bewohner. Die meisten von ihnen haben einen unbefristeten Vertrag und werden monatelang bei uns sein. Uns ist es wichtig, dass wir uns als Mitarbeitende in ihrem Zuhause sehen – das ist eine Frage der Haltung.

Darüber hinaus ist es unsere Priorität, die vorhandenen Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner zu erhalten. Wenn jemand in der Lage ist, eigenständig zu essen und das Restaurant zu besuchen, soll er oder sie das tun können, anstatt auf der Station zu bleiben. Wenn sich jemand noch selbst rasieren kann, aber sonst Pflegeunterstützung benötigt, liegt es in der Verantwortung der Pflegekräfte, diese Fähigkeit zu fördern und den Bewohner dabei zu unterstützen. Das kann länger dauern, als wenn das Personal es selbst übernimmt. Aber genau das ist der Punkt: Die Ressourcen unserer Bewohnerinnen und Bewohner stehen im Vordergrund und sollen erhalten und gefördert werden. Zu diesem Zweck bieten wir unter anderem Geh- und Gedächtnistraining, Yoga, Turnen und Physiotherapie an. Aber auch die Bewegung in Form von Spaziergängen ist wichtig.

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Was verstehen Sie neben der Lebenserwartung von Menschen unter Langlebigkeit und welchen Stellenwert hat das Thema in Ihrer Einrichtung?
Die wichtigste Langlebigkeit ist für uns die Mitarbeiterbindung. Der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte ist bekanntlich sehr ausgetrocknet. Daher ist es uns ein Anliegen, unsere Mitarbeitenden langfristig an uns zu binden, um uns gar nicht erst auf dem Arbeitsmarkt auf die Suche begeben zu müssen. Ich lege grossen Wert darauf, dass ein gutes Arbeitsklima herrscht und die Fluktuation möglichst gering ist. Alle unserer Mitarbeitenden sollen zu Bezugspersonen für unsere Bewohnerinnen und Bewohner werden. Das gilt nicht nur für das Pflegepersonal, sondern auch die hauswirtschaftlichen Mitarbeitenden, z.B. die Reinigungskräfte. Ich würde die Reinigung des Pflegeheims niemals auslagern, denn das würde bedeuten, dass ständig andere Mitarbeitende ins Haus kämen. Wir möchten, dass sich die Menschen im Pflegeheim untereinander kennen. Diese Vertrautheit schafft eine familiäre Atmosphäre.

Wir möchten, dass sich die Menschen im Pflegeheim untereinander kennen. Diese Vertrautheit schafft eine familiäre Atmosphäre.

Wie schaffen Sie es, Menschen in hohem Alter und mit verschiedenen Gebrechen Lebensfreude und Zuversicht zu vermitteln?
Ich denke, es ist unbestreitbar, dass niemand freiwillig ins Pflegeheim geht. Wenn es möglich ist, ziehen es die meisten Menschen vor, zuhause in ihrem gewohnten Umfeld zu bleiben. Es ist daher von grosser Bedeutung, dass wir den Bewohnerinnen und Bewohnern auf Augenhöhe begegnen. Ihre Selbstbestimmung ist dabei ein wichtiger Faktor. Wir orientieren uns daran, was die Bewohnerinnen und Bewohner wollen und was sie sich vorstellen. Wenn eine Bewohnerin beispielsweise daran gewöhnt ist, um 11 Uhr zu frühstücken oder spät ins Bett zu gehen, muss das auch im Pflegeheim möglich sein. Es ist wichtig, dass Gewohnheiten und Lebensstile beibehalten werden können.

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Langlebigkeit kann auch als Durchhaltevermögen verstanden werden. Wie fördern Sie dieses bei Ihrem Team in einem so anspruchsvollen und oft emotional belastenden Beruf wie der Pflege?
Für mich sind die Anstellungsbedingungen der Mitarbeitenden die Basis. Ein fairer Lohn sowie gute Sozialleistungen und Versicherungen sind essenziell. Hinzu kommen die Arbeitsbedingungen. Dazu gehören die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ergonomisch gut ausgestattete Arbeitsplätze, frühzeitige Arbeitsplanung, wertschätzende Führung und ein gutes Arbeitsklima. Auch die Nähe zu den Mitarbeitenden ist wichtig.

Wir möchten aber auch die Extrameile für unsere Mitarbeitenden gehen. Das muss nicht immer monetär sein, sondern kann auch in Form von regelmässigem Feedback, Anerkennung und Aufmerksamkeiten erfolgen. Wir haben zum Beispiel das Programm «Bliib gesund, mach mit», bei dem unsere Mitarbeitenden im Dreimonatsrhythmus neue Entspannungsmöglichkeiten oder Sportarten kennenlernen können. Wir haben Yoga Nidra und Rückentraining angeboten, als nächstes steht Qigong auf dem Programm. Die Nachfrage ist groß und es war schön zu sehen, wie unsere Mitarbeitenden etwas Neues kennenlernen und für sich entdecken konnten.

Welche zukünftigen Entwicklungen sehen Sie im Bereich der Langlebigkeit und wie stellen Sie sich darauf ein?
Wir sind dabei, ein Angebot mit betreutem Wohnen zu konzipieren, um unsere Dienstleistungsvielfalt zu erweitern und Menschen länger in ihrem Leben begleiten zu können. Unser Ziel ist es, Menschen eine seniorengerechte Wohnung anzubieten, in der sie Dienstleistungen wie Spitex und hauswirtschaftliche Leistungen in Anspruch nehmen können, aber nicht müssen. Auch in Aktivierungsprogramme und Veranstaltungen können sie sich integrieren, wenn sie das wünschen. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft werden zu diesem Zweck mehrere Wohnungen gebaut. Betreutes Wohnen ist ein wichtiger Schritt, um den Eintritt ins Heim hinauszuzögern, insbesondere angesichts des Fachkräftemangels und des zu erwartenden zunehmenden Mangels an Pflegeplätzen. Es kann auch verhindern, dass Menschen im Alter vereinsamen.

Darüber hinaus ist der Einsatz von Robotern ein grosses Thema, das uns in Zukunft beschäftigen wird. Wir nutzen seit Jahren PARO, einen therapeutischen Roboter in Form einer Robbe, der unseren Bewohnerinnen und Bewohnern Gesellschaft leisten und ihnen Freude bereiten soll. PARO ist mit moderner Sensorik und künstlicher Intelligenz ausgestattet und reagiert auf Berührungen und Geräusche. Die Robbe hat bereits gute Resultate in Bezug auf das Wohlbefinden unserer Bewohnerinnen und Bewohner gezeigt und wird regelmässig genutzt. Auch der Einsatz von Pflegerobotern ist eine Option, die wir im Auge behalten. Ich habe noch Vorbehalte gegen den Einsatz von Robotern in der Langzeitpflege, denn der persönliche Kontakt ist das Wichtigste in der Pflege. Wir bleiben aber offen für den Einsatz von Technologie und beobachten die Fortschritte in diesem Bereich.

Christoph Bächtold

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Seit über zwei Jahren ist Christoph Bächtold Geschäftsführer des Alters- und Pflegezentrums Bruggwiesen. Nachdem er seine Berufslehre als Koch absolvierte, war er unter anderem zehn Jahre für die Hotel-Kette Marriott tätig, bevor er 2004 ins Gesundheitswesen wechselte.

www.apzb.ch

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