Für Menschen, deren Sinneswahrnehmung eine ganz andere ist, als wir sie kennen, kann die Digitalisierung neue Kanäle und Möglichkeiten der Kommunikation öffnen. Gleichzeitig stossen die Konzepte der digitalen Welt im Universum von Menschen mit angeborener Hörsehbehinderung und Taubblindheit auch rasch an ihre Grenzen. Doch es gibt auch Innovationen, die ganz neue Perspektiven eröffnen. Smarte Textilien, die den Weg weisen können, sind nur eine davon.

Ihre Arbeit in der Stiftung Tanne für taubblinde Menschen ist sehr vielfältig. In welchen Bereichen hat die Digitalisierung in den letzten Jahren auch bei Ihnen Einzug gehalten?

Eigentlich in allen Bereichen. Sowohl in den Support-Bereichen wie auch in der Arbeit mit unseren Klientinnen und Klienten. In der Administration, wie etwa dem Personal- und Rechnungswesen, sind wir schon lange digital unterwegs und stehen gerade vor einem neuen dreijährigen Projekt, das unsere Büroarbeit noch weiter vereinfachen soll. Ausserdem werden auch unsere Kernbereiche schon seit langer Zeit von digitalen Tools unterstützt. So arbeiten wir zum Beispiel in interdisziplinären Förderteams zusammen, die sich über eine spezielle Arbeitsplattform, der Tanne-Webapplikation, koordinieren und austauschen, so dass alle Zugriff haben auf Planungen und Berichte zu einer Klientin oder einem Klienten.

Mirko Baur Profond
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Eine visionäre Idee sind smarte Textilien, die hörsehbehinderten Menschen die Orientierung im Raum erleichtern sollen.

Inwiefern können denn Menschen mit angeborenen Hörsehbeeinträchtigungen von den Errungenschaften der Digitalisierung profitieren?

Unsere Klientinnen und Klienten haben mehrere Möglichkeiten, von der digitalen Welt zu profitieren, wobei das immer sehr abhängig ist von ihren Ressourcen und kognitiven Fähigkeiten. Es gibt zum Beispiel Apps, die bei einem Restsehvermögen neue Lern- und Trainingsformen ermöglichen, Screen Readers, die mit einem gewissen Hörvermögen Vorlesefunktionen erlauben oder Braille-Zeilen für den Computer zum Lesen und Schreiben in Punktschrift. Dann gibt es auch alltagspraktische Geräte, die eine fehlende Sinneswahrnehmung ein Stück weit kompensieren können. Ich denke da zum Beispiel an ein Farberkennungsgerät, das einem blinden Klienten in der Wäscherei ermöglicht, Kleidungsstücke nach Farben zu sortieren. Eine visionäre Idee, an der aber noch konkret gearbeitet wird, sind smarte Textilien, die hörsehbehinderten Menschen unter anderem die Orientierung im Raum erleichtern sollen. Da bin ich gespannt, was uns die digitale Innovation noch alles bieten kann.

Was waren die grössten Herausforderungen und Hürden, die Sie auf dem Weg von der analogen in die digitale Welt überwinden mussten?

Die wohl grösste Herausforderung ist, dass die Welt von Menschen mit Hörsehbehinderung und Taubblindheit eine taktile Welt ist. Der Tastsinn macht einen zentralen Teil der Aussenwahrnehmung aus. Die digitale Welt jedoch ist eine Welt der Distanz, die mit audio-visuellen Impulsen überwunden wird. Und letztere sind für Menschen mit angeborener Hörsehbehinderung gar nicht oder nur sehr eingeschränkt zugänglich. Das ist eine klassische Inkompatibilität – um bei der Sprache der IT zu bleiben – die es zu überbrücken gilt.

Sie waren massgeblich an der Entwicklung der PORTA-App beteiligt, die Begriffe der Tanne-Gebärdensammlung PORTA visuell in Form von kurzen Videosequenzen darstellt und katalogisiert. Wie kam es zu diesem Projekt?

Die PORTA-App haben wir als Handy- und Tablet-App entwickelt, um Gebärden als dreidimensionales Ausdrucksmittel den notwendigen Raum und eine Plattform zur Verfügung zu stellen. Die App ist ein praktisches Tool, das sowohl von Menschen genutzt wird, die Gebärden lernen möchten, aber auch von Menschen, die auf diese Ausdrucksform angewiesen sind. Besonders beliebt ist der spielerische Zugang über das Lernspiel. Wir registrieren hohe Nutzungszahlen und erhalten auch immer wieder wertvolle Anregungen und Feedback, die zur Weiterentwicklung der App nützlich sind.

Die menschliche Sinneswahrnehmung ist ein höchst komplexer Prozess, der sich nicht einfach ersetzen lässt.

Wo sind der Digitalisierung auch klare Grenzen gesetzt, sprich wo bleiben die menschliche Interaktion und Handarbeit unersetzlich?

Selbstverständlich sind all diese Hilfen und Tools nur kleine Unterstützer in unserer alltäglichen Arbeit. Gerade Menschen mit mehrfachen und komplexen Einschränkungen brauchen bei ihrer Betreuung und Förderung den direkten Kontakt und den Austausch mit ihren Mitmenschen und Betreuungspersonen. Es freut mich natürlich, wenn durch innovative Errungenschaften unsere Arbeit und vor allem auch das Leben unserer Klientinnen und Klienten erleichtert werden kann. Im Rahmen unserer inklusiven Kindertagesstätte kommt zum Beispiel eine App zum Einsatz, die die Kommunikation zwischen uns und den Eltern, beziehungsweise Angehörigen, vereinfacht. Solche Tools sind schon hilfreich, aber sie ersetzen unsere Arbeit, und die der Angehörigen, nicht.

Welches sind die nächsten Projekte im Rahmen der Digitalisierung, die Sie mit der Stiftung Tanne anstossen möchten?

Wir sind natürlich ständig im Fluss. Die Digitalisierung als solche ist ja nie abgeschlossen. Konkret werden uns die nächsten drei Jahre weitere Massnahmen in der Administration beschäftigen und natürlich auch die Weiterentwicklung und Erweiterung der PORTA-App, wo die Aufschaltung einer nächsten Sammlung von Gebärden bevorsteht. Ferner steht die Aktualisierung der Tanne-Webapplikation an.

Mirko Baur Profond
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Konnten Sie das digitale Know-how mittlerweile vollständig intern aufbauen, oder zählen Sie für diese Entwicklungen auf externe Berater?

Wir haben in den letzten Jahren ein gut funktionierendes Netzwerk an internen und externen Stellen aufbauen können. Alle Digitalisierungsprojekte sind Gemeinschaftswerke von verschiedenen Beteiligten, zumal wir fast keine Standardlösungen verwenden können, sondern diese jeweils speziell für und mit uns entwickelt oder ausgestaltet werden.

Mirko Baur

Mirko Baur Profond

Mirko Baur ist Gesamtleiter der Tanne und Vizepräsident von Deafblind International. Der Sonderpädagoge und Germanist hat eine Leitungs- und eine Coaching-Ausbildung, einen ausgesprochen grünen Daumen und erzählt gerne Geschichten, die über alle Sinne sinnvoll werden.

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